Aus jungeWelt vom 03.04.2021:
Großmanöver: Neuer Fokus, selbes Ziel Manöver »Defender Europe 2021« probt die Mobilmachung gegen Russland in Südosteuropa und Schwarzmeerregion
Von Jörg Kronauer
Im März hat es begonnen, und in diesem Monat wird es auch öffentlich wohl wieder in stärkerem Umfang wahrzunehmen sein: das Großmanöver »Defender Europe«, das die US-Streitkräfte seit 2020 jährlich gemeinsam mit ihren europäischen Verbündeten abhalten. Wie im vergangenen Jahr geht es darum, das westliche Bündnis auf einen etwaigen militärischen Konflikt mit Russland vorzubereiten. Wie im vergangenen Jahr wird dazu eine fünfstellige Zahl an US-Militärs über den Atlantik nach Europa verlegt, um hier auf Straßen, Schienen und Wasserwegen den Marsch in Richtung Osten zu proben. Die »Defender Europe«-Manöver gelten als größte in Europa seit dem Ende des Kalten Kriegs. Das erste von ihnen stieß Anfang vergangenen Jahres auf breiten Protest; das zweite, das jetzt angelaufen ist, weist Parallelen zu ihm, aber auch Unterschiede auf. Im vergangenen Jahr hatten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten den Schwerpunkt auf die Ostseeregion gesetzt. Die US-Truppen, die über den Atlantik verlegt wurden, kamen zum Beispiel im Bremerhavener Hafen oder am Hamburger Flughafen an, sammelten sich im Norden, brachen in Richtung Osten auf, legten auf dem Truppenübungsplatz Bergen oder in Vorpommern Zwischenstation ein und fuhren weiter nach Polen, ins Baltikum. Wenngleich die Covid-19-Pandemie dann einen weitgehenden Abbruch der Kriegsübung erzwang: Von den Truppenbewegungen waren besonders Nord- und Ostdeutschland betroffen. Die Funktion der Bundesrepublik als zentraler Drehscheibe für den militärischen Aufmarsch der NATO gegen Russland trat in vollem Umfang offen zutage. Beim diesjährigen »Defender Europe« liegt der Fokus in Südosteuropa bzw. der Schwarzmeerregion. Zwar haben die US-Streitkräfte angekündigt, deutsche Häfen, Flughäfen und Truppenübungsplätze zu nutzen, und einige Teilübungen werden in Deutschland und im Baltikum stattfinden. Von den fünf Ländern, über deren Häfen US-Truppen nach Europa verlegt werden, liegen allerdings vier in Südosteuropa – Slowenien, Kroatien, Albanien und Griechenland. Auch die Flughäfen sowie die Truppenübungsplätze, die die US-Streitkräfte nutzen wollen, befinden sich zu zwei Dritteln in Südosteuropa. Dort werden Logistikzentren errichtet, Luftlandeoperationen geübt. US-Marine und -Luftwaffe sind dieses Jahr stärker beteiligt als 2020. Das Szenario, das sich abzeichnet, sind vor allem Truppenbewegungen vom Mittelmeer über den Balkan in Richtung Ukraine und Schwarzes Meer. Die beiden Schwerpunkte der ersten zwei »Defender Europe«-Manöver bilden keinen Gegensatz, sie gehören zusammen. Das hat kürzlich die NATO klargestellt, als sie am 3. März parallel Übungen in der Ostsee- und in der Schwarzmeerregion abhielt. Über der Ostsee flogen zwei atomwaffenfähige US-Langstreckenbomber des Typs »B-1B« in Richtung russische Grenze. Begleitet wurden sie von deutschen und von italienischen Jets, die im Baltikum offiziell nur zur Luftraumüberwachung stationiert sind. Zur selben Zeit simulierten über dem Schwarzen Meer französische und spanische Kampfjets Angriffe auf einen NATO-Minenabwehrverband, der üben sollte, sich zu verteidigen – gegen angeblich zu befürchtende russische Angriffe. »Die Ostsee- und die Schwarzmeerregion sind für die Allianz von strategischer Bedeutung«, erläuterte NATO-Sprecherin Oana Lungescu das Doppelmanöver. In den Jahren seit 2014, als der Konflikt mit Russland eskalierte, hatte die NATO sich zunächst vor allem auf den Ausbau ihrer militärischen Positionen in der Ostseeregion konzentriert. Sie stationierte Bataillone (»Battlegroups«) in Estland, in Lettland, in Litauen – dort unter deutscher Führung – und in Polen. Sie stärkte die Luftraumüberwachung im Baltikum und intensivierte dort ihre Manöver: Allein 2020 sollen die vier NATO-»Battlegroups« trotz der Pandemie drei Dutzend Kriegsübungen durchgeführt haben. Inzwischen hat das Militärbündnis seine Aktivitäten auch am Schwarzen Meer auszudehnen begonnen: Im rumänischen Craiova westlich von Bukarest ist eine multinationale Brigade stationiert. Zudem führen Kampfjets aus verschiedenen NATO-Staaten von der Air Base Mihail Kogalniceanu bei Constanta aus Patrouillenflüge (»Air Policing«) durch. Das Bündnis stärkt seine Marinemanöver im Schwarzen Meer. Kriegsschiffe der Mitgliedstaaten operieren dort laut NATO-Angaben inzwischen während zwei Dritteln des Jahres. »Defender Europe 2021« wird nun die Truppenverlegung in Richtung Schwarzes Meer üben, ganz wie »Defender Europe 2020« die Truppenverlegung in die Ostseeregion trainierte. Und man sollte bei alledem nicht vergessen: Während bei den »Defender Europe«-Manövern der Aufmarsch gegen Russland an allen möglichen Teilfronten geübt wird, proben die US-Streitkräfte mit asiatischen Verbündeten zugleich den Aufmarsch gegen China – im Rahmen der »Defender Pacific«-Manöverserie, die gleichfalls im vergangenen Jahr gestartet wurde, hierzulande aber kaum beachtet worden ist. Der neue kalte Krieg hat zwei große Fronten, auch wenn Deutschland – noch – vor allem von einer davon, derjenigen, die sich gegen Russland richtet, betroffen ist. +++—————————————————————+++ Defender Europe 21: Testlauf zum Schwarzen Meer »Defender Europe 21« und alternative Methoden zur militärischen Machtausübung Von Jörg Kronauer In den Planungen westlicher Strategen für das Schwarze Meer spielen zweierlei Faktoren eine Rolle. Zum einen geht es um die unmittelbaren, eigenen Interessen. Eine stärkere Position in dem Gewässer böte die Möglichkeit, den Druck auf Russland zu verstärken. Sie erleichterte es zudem, den eigenen Einfluss im Kaukasus auszuweiten. Letzteres wäre nicht nur wegen der Energieressourcen im Kaspischen Becken, sondern vor allem auch hinsichtlich des wachsenden chinesischen Einflusses in der Region aus der Perspektive der im Westen herrschenden Kreise erstrebenswert. Zum anderen haben westliche Strategen stets die russischen Interessen im Schwarzen Meer im Blick. Die Schwarzmeerflotte, deren wichtigsten Stützpunkt sich Moskau mit der Aufnahme der Krim in die Russische Föderation gesichert hat, ist nicht nur zur Verteidigung, sondern auch zur Einflussausdehnung von Bedeutung: Sie bildet, so hat es Ende 2018 exemplarisch das Fachblatt Marineforum formuliert, »das strategische Rückgrat der Machtprojektion Russlands über den Bosporus hinaus ins östliche Mittelmeer und den Nahen Osten«. Daraus ergibt sich automatisch: Wer Moskaus Einfluss im Nahen Osten zu schwächen sucht, kann versuchen, ihm zunächst im Schwarzen Meer weh zu tun. Was tun? Kürzlich hat sich Frederick »Ben« Hodges mit dieser Frage befasst. Hodges, einst Kommandeur der U. S. Army Europe (2014 bis 2017), vertreibt sich im Ruhestand die Zeit mit Vorträgen auf Konferenzen und mit dem Verfassen von Papieren für westliche Denkfabriken. In einer Studie zur strategischen Lage im Schwarzen Meer kommt er zu dem Schluss, der Westen könne dort keine Dominanz (»Sea Control«) erreichen: Die russische Schwarzmeerflotte übertreffe die Kapazitäten, die die Marinen der NATO und ihrer Verbündeten in der Region auf Dauer mobilisieren könnten. Dies übrigens nicht zuletzt, weil der Vertrag von Montreux aus dem Jahr 1936 den Zugang zum Schwarzen Meer durch die Dardanellen und den Bosporus strikt reglementiert: Kriegsschiffe aus Nichtanrainerstaaten dürfen sich maximal 21 Tage lang in dem Gewässer aufhalten. Darüber hinaus ist Überwasserkriegsschiffen mit einer Verdrängung von mehr als 10.000 Tonnen, Flugzeugträgern sowie U-Booten, die Nichtanrainerstaaten gehören, die Einfahrt prinzipiell untersagt. Weil der Spielraum der westlichen Mächte im Schwarzen Meer also eingeschränkt ist – zumindest in Friedenszeiten –, schlägt Hodges alternative Methoden zur militärischen Machtausdehnung vor. Zwar solle man weiterhin die eigene Marinepräsenz im Schwarzen Meer stärken und die NATO-Mitglieder Rumänien und Bulgarien, aber auch die Ukraine und Georgien bei der maritimen Aufrüstung unterstützen. Darüber hinaus solle man aber vor allem Russlands Schwarzmeerflotte »verletzlich machen« – und zwar per Stationierung von Drohnen und Mittelstreckenraketen in den NATO-Anrainerstaaten. Nicht zuletzt solle man Rumänien gezielt aufrüsten – mit Raketenabwehr, Antischiffsraketen, Kampfhubschraubern und Drohnen zu Luft und zu Wasser. Die Türkei, schreibt Hodges, sei zwar eigentlich der ideale Standort für die Stationierung von Waffen gegen Russland, man könne sich aber politisch nicht mehr auf sie verlassen. In ähnlicher Weise urteilen Strategen auch über Bulgarien. Hodges dringt schließlich noch darauf, die »militärische Mobilität« hin zum Schwarzen Meer (»über die Karpaten«) rasch zu verbessern. Einen ersten Testlauf dafür ermöglicht nun »Defender Europe 21«.